Wir erleben derzeit eine multiple Krise: Energie, Friedensdividende, Exportmärkte – vieles gerät ins Stocken. Gerade das treibt mich als Innovationsforscherin an: In solchen Momenten brauchen wir Innovation. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln, aktiv werden und unsere Komfortzone verlassen. Auch müssen wir mitgestalten und mehr Eigenverantwortung übernehmen – in Unternehmen, in Forschung und im Alltag.!
Prof. Dr. Katharina Hölzle, Institutsleiterin IAT der Universität Stuttgart und geschäftsführende Institutsleiterin Fraunhofer IAO, Stuttgart sowie Technologiebeauftragte der Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-WürttembergNicole Steinicke: Sie leiten das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart und sind geschäftsführende Institutsleiterin des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation. Zudem sind Sie Technologiebeauftragte der Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg. In welcher Rolle sehen Sie sich in dem Spannungsfeld zwischen Lehre und Wissenschaft, Industrie und Politik?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: Ich sehe mich als Brückenbauerin – und als Übersetzerin zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Diese Bereiche sprechen oft ganz unterschiedliche Sprachen und folgen eigenen Logiken. Genau deshalb braucht es Menschen, die zwischen ihnen vermitteln können. In der Politik entstehen etwa Konzepte, die in der Praxis der Unternehmen so nicht funktionieren würden – oder umgekehrt: Unternehmerinnen und Unternehmer haben berechtigte Anliegen, fühlen sich aber von der Politik nicht verstanden. Hier übernehme ich die Rolle der Übersetzerin, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Wenn dieses gemeinsame Verständnis erst einmal da ist, wenn man also ein „Level Playing Field“ geschaffen hat, dann kann man beginnen, Brücken zu bauen und an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Denn dauerhaft kann niemand nur übersetzen: Die Akteure müssen lernen, selbst miteinander ins Gespräch zu kommen und Verantwortung zu teilen. Diese Haltung nehme ich auch mit in meine Arbeit in der Lehre. Viele Studierende fragen sich, warum sie in Zeiten von Künstlicher Intelligenz überhaupt noch etwas lernen oder ein Lehrbuch aufschlagen sollen. Dann zeige ich ihnen, woran wir aktuell mit Unternehmen arbeiten, welche Herausforderungen die Praxis wirklich bewegt und dass sie hier das Handwerkszeug erwerben, um diese Zukunft aktiv mitzugestalten.
Nicole Steinicke: Sie beschäftigen sich unter anderem mit der Gestaltung und Umsetzung der digitalen Transformation sowie den Aufbau von Innovationsökosystemen. Wie bewerten Sie den aktuellen Innovationsstandort Deutschland – ist das Glas eher halb voll oder halb leer?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: Beides – das Glas ist halb voll und halb leer. Grundsätzlich steht Deutschland im internationalen Vergleich noch immer relativ gut da. Es gibt eine Vielzahl von Innovationsindikatoren, und in den meisten Ranglisten liegen wir weiterhin unter den Top Ten. Erst kürzlich hat das World Economic Forum ein neues Ranking veröffentlicht, das Innovationscluster untersucht – also das, was wir lieber als Innovationsökosysteme bezeichnen. Da landet München auf Platz 27, Stuttgart sogar erst auf Platz 54. Das sieht auf den ersten Blick nicht gut aus, auch wenn man solche Rankings immer mit Vorsicht genießen muss. Positiv ist: Baden-Württemberg liegt im weltweiten Innovationsranking auf Platz drei – direkt hinter Massachusetts und dem Silicon Valley. Darauf können wir stolz sein. Gleichzeitig zeigt der Trend der letzten zehn Jahre jedoch klar nach unten. In nahezu allen Rankings sind wir kontinuierlich zurückgefallen. Deshalb ist das Glas eben auch halb leer.
Unser Anspruch als Land ohne natürliche Rohstoffe muss sein, dauerhaft unter den Top Five zu bleiben. Sonst werden wir unseren Wohlstand langfristig nicht sichern können. Dafür müssen wir allerdings deutlich mehr tun. Ein Beispiel: Die bundesweite Forschungs- und Entwicklungsquote liegt derzeit bei rund 3,2 Prozent. Aus meiner Zeit in der Expertenkommission Forschung und Innovation weiß ich, dass wir immer eine Quote von mindestens 3,5 Prozent gefordert haben – das ist die Eintrittskarte, um international ganz vorne mitzuspielen. Momentan sinkt diese Quote jedoch leicht, weil insbesondere Unternehmen weniger in Forschung und Entwicklung investieren. Das ist dramatisch, denn gerade die Industrie war bisher der zentrale Innovationstreiber in Deutschland. In Baden-Württemberg etwa liegt die F&E-Quote bei beeindruckenden 5,6 Prozent, vor allem dank forschungsstarker Unternehmen wie Bosch. Wenn dort aber – wie aktuell im Bereich Bosch Mobility – Investitionen zurückgehen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf das gesamte Innovationssystem.
Besorgniserregend ist zudem, dass inzwischen nicht mehr nur Produktion, sondern auch Forschung und Entwicklung ins Ausland verlagert werden. Das war früher undenkbar – und zeigt, wie ernst die Lage tatsächlich ist
Nicole Steinicke: Wie geht es also unseren Unternehmen? Haben die das Gefühl, dass sie hier eine Umgebung haben, in der sie investieren wollen?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: Nein, das haben sie aktuell nicht. Zurzeit würden viele Unternehmen diese Frage eher verneinen. Es gibt zwar positive Signale: Der Staat hält die Staatsquote hoch, und die Pläne der Bundesregierung sind grundsätzlich unterstützend. Das allein reicht aber nicht. Ein zentraler Punkt ist die digitale Infrastruktur. Hier liegen wir im internationalen Vergleich deutlich zurück und müssen dringend investieren. Auch die Gesamtinfrastruktur ist ein Thema. Sehr gut ist hingegen unsere Bildung, vor allem dank des dualen Systems. Nach klassischen Indikatoren schneiden wir hier immer noch überdurchschnittlich ab, und unsere Fachkräfte sind in der Lage, Innovationen umzusetzen. Allerdings beobachten wir eine langfristige Stagnation: Wir bilden heute noch oft nach den Methoden von vor 20 Jahren aus, sowohl in Schulen als auch an Hochschulen. Vergleiche mit Singapur oder unseren skandinavischen Nachbarn zeigen, dass wir hier hinterherhinken. Das ist ein Risiko für die Zukunft, und daran müssen wir arbeiten. Dennoch: Wir haben nach wie vor viele Weltmarktführer und kreative Köpfe, die Innovation treiben. Mein Wunsch ist, dass wir wieder ehrgeiziger werden und diesen Ehrgeiz mit Pragmatismus verbinden.
Nicole Steinicke: Was sind die Schlüsseltechnologien in Deutschland? In welchen sind wir gut aufgestellt, in welchen nicht und wo sollten wir besser werden?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: Deutschland ist in klassischen Technologien stark, etwa in Fertigungs- und Produktionstechnologien, Materialforschung und Biotechnologien. Auch Quantentechnologien entwickeln sich gut, dank gezielter Förderungen und wachsender Ökosysteme. Herausfordernd sind dagegen digitale Technologien: Softwareentwicklung, Cloud-Technologien, Cybersecurity. Die Zukunft liegt in der Verbindung von Fertigung und Digitalisierung, doch hier sehe ich noch erheblichen Nachholbedarf, sowohl bei Ingenieuren als auch bei Informatikern. Auch in Robotik und KI haben wir viele innovative Mittelständler. Aber ohne die Integration von KI in die Fertigungsprozesse können wir unser Potenzial nicht voll ausschöpfen. Wir müssen also unsere Stärken in der Produktion stärker mit digitalen Kompetenzen verzahnen.
Nicole Steinicke: Wie nimmt man insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen bei all diesen Veränderungen mit? Wie kommen Unternehmen in einen Veränderungsprozess?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: In Deutschland gibt es eine Vielzahl von Angeboten: IHK-Initiativen, Digitalzentren, Digital Hubs, Innovationsgutscheine, Förderprogramme und kostenlose Beratungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen. Prinzipiell kann sich kein Unternehmen beschweren, dass es keine Unterstützung bekommt.
Das Problem ist eher die Nutzung: Eine Gruppe von Unternehmen nimmt diese Angebote aktiv wahr, aber eine nicht unerhebliche Zahl kommt einfach nicht – oft, weil sie die Notwendigkeit noch nicht erkannt hat. Allerdings ist die Eigeninitiative der Unternehmen entscheidend. Wer sich digital transformieren will, muss auch den ersten Schritt machen und die bestehenden Angebote aktiv nutzen.
Nicole Steinicke: Wo sehen Sie Deutschland in 3 bis 5 Jahren?
Prof. Dr. Katharina Hölzle: Da ich Berufsoptimistin bin, sehe ich Deutschland in 3 bis 5 Jahren als ein Land, das es geschafft hat, substanziell bürokratische Richtlinien abzubauen und die Verwaltung zu digitalisieren. Wir als Gesellschaft müssen allerdings Eigenverantwortung übernehmen und erkennen, dass wir mitgestalten müssen – in Unternehmen, in Forschung und im Alltag. Die Grundlagen sind da: Biotechnologien, regenerative Energien, Quantentechnologien, KI. Jetzt kommt es darauf an, diese Technologien in die Praxis zu bringen. Deutschland hat die Ressourcen und die Expertise. Wir müssen nur aus der Komfortzone heraus und die Chancen konsequent nutzen.
Das Gespräch führte Chefredakteurin Nicole Steinicke.
Bilder: Fraunhofer IAO/Lapp